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Allgemeine politische Betrachtungen aus meiner Wiener Zeit



Ich bin heute der Überzeugung, daß der Mann sich im allgemeinen, Fälle ganz besonderer Begabung ausgenommen, nicht vor seinem dreißigsten Jahre in der Politik öffentlich betätigen soll. Er soll dies nicht, da ja bis in diese Zeit hinein zumeist erst die Bildung einer allgemeinen Plattform stattfindet, von der aus er nun die verschiedenen politischen Probleme prüft und seine eigene Stellung zu ihnen endgültig festlegt. Erst nach dem Gewinnen einer solchen grundlegenden Weltanschauung und der dadurch erreichten Stetigkeit der eigenen Betrachtungsweise gegenüber den einzelnen Fragen des Tages soll oder darf der nun wenigstens innerlich ausgereifte Mann sich an der politischen Führung des Gemeinwesens beteiligen.

Ist dies anders, so läuft er Gefahr, eines Tages seine bisherige Stellung in wesentlichen Fragen entweder ändern zu müssen oder wider sein besseres Wissen und Erkennen bei einer Anschauung stehenzubleiben, die Verstand und Überzeugung bereits längst ablehnen. Im ersteren Falle ist dies sehr peinlich für ihn persönlich, da er nun, als selber schwankend, mit Recht nicht mehr erwarten darf, daß der Glaube seiner Anhänger ihm in gleicher unerschütterlicher Festigkeit gehöre wie vordem:; für die von ihm Geführten jedoch bedeutet ein solcher Umfall des Führers Ratlosigkeit sowie nicht selten das Gefühl einer gewissen Beschämung den bisher von ihnen Bekämpften gegenüber. Im zweiten Falle aber tritt ein, was wir besonders heute so oft sehen: in eben dem Maße, in dem der Führer nicht mehr an das von ihm Gesagt glaubt, wird seine Verteidigung

Der Politiker

hohl und flach, dafür aber gemein in der Wahl der Mittel. Während er selber nicht mehr daran denkt, für seine politischen Offenbarungen ernstlich einzutreten (man stirbt nicht für etwas, an das man selber nicht glaubt), werden die Anforderungen an seine Anhänger jedoch in eben diesem Verhältnis immer größer und unverschämter, bis er endlich den letzten Rest des Führers opfert, um beim "Politiker" zu landen; das heißt bei jener Sorte von Menschen, deren einzige wirkliche Gesinnung die Gesinnungslosigkeit ist, gepaart mit frecher Aufdringlichkeit und einer oft schamlos entwickelten Kunst der Lüge.

Kommt so ein Bursche dann zum Unglück der anständigen Menschheit auch noch in ein Parlament, so soll man schon von Anfang an wissen, daß das Wesen der Politik für ihn nur noch im heroischen Kampf um den dauernden Besitz dieser Milchflasche seines Lebens und seiner Familie besteht. Je mehr dann Weib und Kind an ihr hängen, um so zäher wird er für sein Mandat streiten. Jeder sonstige Mensch mit politischen Instinkten ist damit allein schon sein persönlicher Feind; in jeder neuen Bewegung wittert er den möglichen Beginn seines Endes und in jedem größeren Manne die wahrscheinlich von diesem noch einmal drohende Gefahr.

Ich werde auf diese Sorte von Parlamentswanzen noch gründlich zu sprechen kommen.

Auch der Dreißigjährige wird im Laufe seines Lebens noch vieles zu lernen haben, allein es wird dies nur eine Ergänzung und Ausfüllung des Rahmens sein, den die grundsätzlich angenommene Weltanschauung ihm vorlegt. Sein Lernen wird kein prinzipielles Umlernen mehr sein, sondern ein Hinzulernen, und seine Anhänger werden nicht das beklommene Gefühl hinunterwürgen müssen, von ihm bisher falsch unterrichtet worden zu sein, sondern im Gegenteil: das ersichtliche organische Wachsen des Führers wird ihnen Befriedigung gewähren, da sein Lernen ja nur die Vertiefung ihrer eigenen Lehre bedeutet. Dies aber ist in ihren Augen ein Beweis für die Richtigkeit ihrer bisherigen Anschauungen.

Das politische Denken

Ein Führer, der die Plattform seiner allgemeinen Weltanschauung an sich, weil als falsch erkannt, verlassen muß, handelt nur dann mit Anstand, wenn er in der Erkenntnis seiner bisherigen fehlerhaften Einsicht die letzte Folgerung zu ziehen bereit ist. Er muß in einem solchen Falle mindestens der öffentlichen Ausübung einer weiteren politischen Betätigung entsagen. Denn da er schon einmal in grundlegenden Erkenntnissen einem Irrtum verfiel, ist die Möglichkeit auch ein zweites Mal gegeben. Auf keinen Fall aber hat er noch das Recht, weiterhin das Vertrauen der Mitbürger in Anspruch zu nehmen oder gar ein solches zu fordern.

Wie wenig nun allerdings heute einem solchen Anstand entsprochen wird, bezeugt nur die allgemeine Verworfenheit des Packs, das sich zur Zeit berufen fühlt, in Politik zu "machen".

Auserwählt dazu ist von ihnen kaum einer.

Ich hatte mich einst gehütet, irgendwie öffentlich aufzutreten, obwohl ich glaube, mich mehr mit Politik beschäftigt zu haben als so viele andere. Nur im kleinsten Kreise sprach ich von dem, was mich innerlich bewegte oder anzog. Dieses Sprechen im engsten Rahmen hatte viel Gutes für sich: ich lernte so wohl weniger "reden", dafür aber die Menschen in ihren oft unendlich primitiven Anschauungen und Einwänden kennen. Dabei schulte ich mich, ohne Zeit und Möglichkeit zu verlieren, zur eigenen Weiterbildung. Die Gelegenheit dazu war sicher nirgends in Deutschland so günstig wie damals in Wien.

*

Das allgemeine politische Denken in der alten Donaumonarchie war zunächst seinem Umfange nach größer und umspannender als im alten Deutschland der gleichen Zeit - Teile von Preußen, Hamburg und die Küste der Nordsee ausgenommen. Ich verstehe nun allerdings unter der Bezeichnung "Österreich" in diesem Falle jenes Gebiet des großen Habsburgerreiches, das infolge seiner deutschen Besiedelung in jeglicher Hinsicht nicht nur die historische

Wiens letzer Aufschwung

Veranlassung der Bildung dieses Staates überhaupt war, sondern das in seiner Bevölkerung auch ausschließlich jene Kraft aufwies, die diesem politisch so künstlichen Gebilde das innere kulturelle Leben auf viele Jahrhunderte zu schenken vermochte. Je mehr die Zeit Fortschritt, um so mehr war Bestand und Zukunft dieses Staates gerade von der Erhaltung dieser Keimzelle des Reiches abhängig.

Waren die alten Erblande das Herz des Reiches, das immer wieder frisches Blut in den Kreislauf des staatlichen und kulturellen Lebens trieb, dann aber war Wien Gehirn und Wille zugleich. Schon in ihrer äußeren Aufmachung durfte man dieser Stadt die Kraft zusprechen, in einem solchen Völkerkonglomerat als einigende Königin zu thronen, um so durch die Pracht der eigenen Schönheit die bösen Alterserscheinungen des Gesamten vergessen zu lassen.

Mochte das Reich in seinem Inneren noch so heftig zucken unter den blutigen Kämpfen der einzelnen Nationalitäten, das Ausland, und besonders Deutschland, sah nur das liebenswürdige Bild dieser Stadt. Die Täuschung war um so größer, als Wien in dieser Zeit vielleicht den letzten und größten sichtbaren Aufschwung zu nehmen schien. Unter der Herrschaft eines wahrhaft genialen Bürgermeisters erwachte die ehrwürdige Residenz der Kaiser des alten Reiches noch einmal zu einem wundersamen jungen Leben. Der letzte große Deutsche, den das Kolonistenvolk der Ostmark aus seinen Reihen gebar, zählte offiziell nicht zu den sogenannten "Staatsmännern"; aber indem dieser Dr. Lueger als Bürgermeister der "Reichshaupt- und Residenzstadt" Wien eine unerhörte Leistung nach der anderen auf, man darf sagen, allen Gebieten kommunaler Wirtschafts- und Kulturpolitik hervorzauberte, stärkte er das Herz des gesamten Reiches und wurde über diesen Umweg zum größeren Staatsmann, als die sogenannten "Diplomaten" es alle zusammen damals waren.

Wenn das Völkergebilde, "Österreich" genannt, endlich dennoch zugrunde ging, dann spricht dies nicht im geringsten gegen die politische Fähigkeit des Deutschtums in der alten

75 Das Deutschtum in Österreich

Ostmark, sondern war das zwangsläufige Ergebnis der Unmöglichkeit, mit zehn Millionen Menschen einen Fünfzig-Millionen-Staat von verschiedenen Nationen auf die Dauer halten zu können, wenn eben nicht ganz bestimmte Voraussetzungen rechtzeitig gegeben wurden.

Der Deutschösterreicher dachte mehr als groß.

Er war immer gewohnt, im Rahmen eines großen Reiches zu leben und hatte das Gefühl für die damit verbundenen Aufgaben nie verloren. Er war der einzige in diesem Staate, der über die Grenzen des engeren Kronlaubes hinaus noch die Reichsgrenze sah; ja, als das Schicksal ihn schließlich vom gemeinsamen Vaterlande trennen sollte, da versuchte er immer noch, der ungeheuren Aufgabe Herr zu werden und dem Deutschtum zu erhalten, was die Väter in unendlichen Kämpfen dem Osten einst abgerungen hatten. Wobei noch zu bedenken ist, daß dies nur noch mit geteilter Kraft geschehen konnte; denn Herz und Erinnerung der Besten hörten niemals auf, für das gemeinsame Mutterland zu empfinden, und nur ein Rest blieb der Heimat.

Schon der allgemeine Gesichtskreis des Deutschösterreichers war ein verhältnismäßig weiter. Seine wirtschaftlichen Beziehungen umfaßten häufig nahezu das ganze vielgestaltige Reich. Fast alle wirklich großen Unternehmungen befanden sich in seinen Händen, das leitende Personal an Technikern und Beamten ward zum größten Teil von ihm gestellt. Er war aber auch der Träger des Außenhandels, soweit nicht das Judentum auf diese ureigenste Domäne seine Hand gelegt hatte. Politisch hielt er allein noch den Staat zusammen. Schon die Dienstzeit beim Heere war ihn über die engen Grenzen der Heimat weit hinaus. Der deutschösterreichische Rekrut rückte wohl vielleicht bei einem deutschen Regimente ein, allein das Regiment selber konnte ebensogut in der Herzegowina liegen wie in Wien oder Galizien. Das Offizierskorps war immer noch deutsch, das höhere Beamtentum vorherrschend. Deutsch aber war endlich Kunst und Wissenschaft. Abgesehen vom Kitsch der neueren Kunstentwicklung, dessen Produktion allerdings

76 Das Deutschtum in Österreich

auch einem Negervolke ohne weiteres möglich sein dürfte, war der Besitzer und auch Verbreiter wahrer Kunstgesinnung nur der Deutsche allein. In Musik, Baukunst, Bildhauerei und Malerei war Wien der Brunnen, der in unerschöpflicher Fülle die ganze Doppelmonarchie versorgte, ohne jemals selber sichtlich zu versiegen.

Das Deutschtum war endlich noch der Träger der gesamten Außenpolitik, wenn man von den der Zahl nach wenigen Ungarn absieht.

Dennoch war jeder Versuch, dieses Reich zu erhalten, vergeblich, da die wesentlichste Voraussetzung fehlte.

Für den österreichischen Völkerstaat gab es nur eine Möglichkeit, die zentrifugalen Kräfte bei den einzelnen Nationen zu überwinden. Der Staat wurde entweder zentral regiert und damit aber auch ebenso innerlich organisiert, oder er war überhaupt nicht denkbar.

In verschiedenen lichten Augenblicken kam diese Einsicht auch der "Allerhöchsten" Stelle, um aber zumeist schon nach kurzer Zeit vergessen oder als schwer durchführbar wieder beiseitegetan zu werden. Jeder Gedanke einer mehr föderativen Ausgestaltung des Reiches mußte zwangsläufig infolge des Fehlens einer starken staatlichen Keimzelle von überragender Macht fehlschlagen. Dazu kamen noch die wesentlich anderen inneren Voraussetzungen des österreichischen Staates gegenüber dem Deutschen Reiche Bismarckscher Fassung. In Deutschland handelte es sich nur darum, politische Traditionen zu überwinden, da kulturell eine gemeinsame Grundlage immer vorlag. Vor allem besaß das Reich, von kleinen fremden Splittern abgesehen, nur Angehörige eines Volkes.

In Österreich lagen die Verhältnisse umgekehrt.

Hier fiel die politische Erinnerung eigener Größe bei den einzelnen Ländern, von Ungarn abgesehen, entweder ganz fort, oder sie war vom Schwamm der Zeit gelöscht, mindestens aber verwischt und undeutlich. Dafür entwickelten sich nun im Zeitalter des Nationalitätenprinzips in den verschiedenen Ländern völkische Kräfte, deren Überwindung in eben dem Maße schwer werden mußte, als sich am Rande

77 Zentrifugale Kräfte der Völker Österreichs

der Monarchie Nationalstaaten zu bilden begannen, deren Staatsvölker, rassisch mit den einzelnen österreichischen Volkssplittern verwandt oder gleich, nunmehr ihrerseits mehr Anziehungskraft auszuüben vermochten, als dies umgekehrt dem Deutschösterreicher noch möglich war.

Selbst Wien konnte auf die Dauer diesen Kampf nicht mehr bestehen.

Mit der Entwicklung von Budapest zur Großstadt hatte es zum ersten Male eine Rivalin erhalten, deren Aufgabe nicht mehr die Zusammenfassung der Gesamtmonarchie war, sondern vielmehr die Stärkung eines Teiles derselben. In kurzer Zeit schon sollte Prag dem Beispiel folgen, dann Lemberg, Laibach usw. Mit dem Aufstieg dieser einstmaligen Provinzstädte zu nationalen Hauptstädten einzelner Länder bildeten sich nun auch Mittelpunkte für ein mehr und mehr selbständiges Kulturleben derselben. Erst dadurch aber erhielten die völkisch-politischen Instinkte ihre geistige Grundlage und Vertiefung. Es mußte so einmal der Zeitpunkt herannahen, da diese Triebkräfte der einzelnen Völker mächtiger wurden als die Kraft der gemeinsamen Interessen, und dann war es um Österreich geschehen.

Diese Entwicklung ließ sich seit dem Tode Josephs II. in ihrem Laufe sehr deutlich feststellen. Ihre Schnelligkeit war von einer Reihe von Faktoren abhängig, die zum Teil in der Monarchie selber lagen, zum anderen Teil aber das Ergebnis der jeweiligen außenpolitischen Stellung des Reiches bildeten.

Wollte man den Kampf für die Erhaltung dieses Staates ernstlich aufnehmen und durchfechten, dann konnte nur eine ebenso rücksichtslose wie beharrliche Zentralisierung allein zum Ziele führen. Dann mußte aber vor allem durch die prinzipielle Festlegung einer einheitlichen Staatssprache die rein formelle Zusammengehörigkeit betont, der Verwaltung aber das technische Hilfsmittel in die Hand gedrückt werden, ohne das ein einheitlicher Staat nun einmal nicht zu bestehen vermag. Ebenso konnte nur dann auf die Dauer durch Schule und Unterricht eine einheitliche Staatsgesinnung herangezüchtet werden. Dies war nicht in zehn oder

78 Folgen blutsmäßiger Verschiedenheit

zwanzig Jahren zu erreichen, sondern hier mußte man mit Jahrhunderten rechnen, wie denn überhaupt in allen kolonisatorischen Fragen der Beharrlichkeit eine größere Bedeutung zukommt als der Energie des Augenblicks.

Daß dann die Verwaltung sowohl als auch die politische Leitung in strengster Einheitlichkeit zu führen sind, versteht sich von selbst.

Es war nun für mich unendlich lehrreich, festzustellen, warum dies nicht geschah, oder besser, warum man dies nicht getan. Nur der Schuldige an dieser Unterlassung war der Schuldige am Zusammenbruche des Reiches.

Das alte Österreich war mehr als ein anderer Staat gebunden an die Größe seiner Leitung. Hier fehlte ja das Fundament des Nationalstaates, der in der völkischen Grundlage immer noch eine Kraft der Erhaltung besitzt, wenn die Führung als solche auch noch so sehr versagt. Der einheitliche Volksstaat kann vermöge der natürlichen Trägheit seiner Bewohner und der damit verbundenen Widerstandskraft manchmal erstaunlich lange Perioden schlechtester Verwaltung oder Leitung ertragen, ohne daran innerlich zugrunde zu gehen. Es ist dann oft so, als befinde sich in einem solchen Körper keinerlei Leben mehr, als wäre er tot und abgestorben, bis plötzlich der Totgewähnte sich wieder erhebt und nun staunenswerte Zeichen seiner unverwüstlichen Lebenskraft der übrigen Menschheit gibt.

Anders aber ist dies bei einem Reiche, das aus nicht gleichen Völkern zusammengesetzt, nicht durch das gemeinsame Blut als vielmehr durch eine gemeinsame Faust gehalten wird. Hier wird jede Schwäche der Leitung nicht zu einem Winterschlaf des Staates führen, sondern zu einem Erwachen all der individuellen Instinkte Anlaß geben, die blutsmäßig vorhanden sind, ohne sich in Zeiten eines überragenden Willens entfalten zu können. Nur durch jahrhundertelange gemeinsame Erziehung, durch gemeinsame Tradition, gemeinsame Interessen usw. kann dies Gefahr gemildert werden. Daher werden solche Staatsgebilde, je jünger sie sind, um so mehr von der Größe der Führung abhängen, ja als Werk überragender Gewaltmenschen und

Joseph II.

Geistesheroen oft schon nach dem Tode des einsamen großen Begründers wieder zerfallen. Aber noch nach Jahrhunderten können diese Gefahren nicht als überwunden gelten, sie schlummern nur, um oft ganz plötzlich zu erwachen, sobald die Schwäche der gemeinsamen Leitung und die Kraft der Erziehung, die Erhabenheit aller Tradition, nicht mehr den Schwung des eigenen Lebensdranges der verschiedenen Stämme zu überwinden vermag.

Dies nicht begriffen zu haben, ist die vielleicht tragische Schuld des Hauses Habsburg.

Einem einzigen unter ihnen hielt das Schicksal noch einmal die Fackel über die Zukunft seines Landes empor, dann verlosch sie für immer.

Joseph II., römischer Kaiser der deutschen Nation, sah in fliegender Angst, wie sein Haus, auf die äußerste Kante des Reiches gedrängt, dereinst im Strudel eines Völkerbabylons verschwinden müßte, wenn nicht in letzter Stunde das Versäumte der Väter wieder gutgemacht würde. Mit übermenschlicher Kraft stemmte sich der "Freund der Menschen" gegen die Fahrlässigkeit der Vorfahren und suchte in einem Jahrzehnt einzuholen, was Jahrhunderte vordem versäumten. Wären ihm nur vierzig Jahre vergönnt gewesen zu seiner Arbeit und hätten nach ihm auch nur zwei Generationen in gleicher Weise das begonnene Werk fortgeführt, so würde das Wunder wahrscheinlich gelungen sein. Als er aber nach kaum zehn Jahren Regierung, zermürbt an Leib und Seele, starb, sank mit ihm auch sein Werk in das Grab, um, nicht mehr wiedererweckt, in der Kapuzinergruft auf ewig zu entschlafen.

Seine Nachfolger waren der Aufgabe weder geistig noch willensmäßig gewachsen.

Als nun durch Europa die ersten revolutionären Wetterzeichen einer neuen Zeit flammten, da begann auch Österreich langsam nach und nach Feuer zu fangen. Allein als der Brand endlich ausbrach, da wurde die Glut schon weniger durch soziale, gesellschaftliche oder auch allgemein politische Ursachen angefacht als vielmehr durch Triebkräfte völkischen Ursprungs.

80 Die Auflösung der Donaumonarchie

Die Revolution des Jahres 1848 konnte überall Klassenkampf sein, in Österreich jedoch war sie schon der Beginn eines neuen Rassenstreites. Indem damals der Deutsche, diesen Ursprung vergessend oder nicht erkennend, sich in den Dienst der revolutionären Erhebung stellte, besiegelte er damit sein eigenes Los. Er half mit, den Geist der westlichen Demokratie zu erwecken, der in kurzer Zeit ihm die Grundlagen der eigenen Existenz entzog.

Mit der Bildung eines parlamentarischen Vertretungskörpers ohne die vorhergehende Niederlegung und Festigung einer gemeinsamen Staatssprache war der Grundstein zum Ende der Vorherrschaft des Deutschtums in der Monarchie gelegt worden. Von diesem Augenblick an war damit aber auch der Staat selber verloren. Alles, was nun noch folgte, war nur die historische Abwicklung eines Reiches.

Diese Auflösung zu verfolgen, war ebenso erschütternd wie lehrreich. In tausend und aber tausend Formen vollzog sich im einzelnen diese Vollstreckung eines geschichtlichen Urteils. Daß ein großer Teil der Menschen blind durch die Erscheinungen des Zerfalls wandelte, bewies nur den Willen der Götter zu Österreichs Vernichtung.

Ich will hier nicht in Einzelheiten mich verlieren, da dies nicht die Aufgabe dieses Buches ist. Ich will nur jene Vorgänge in den Kreis einer gründlicheren Betrachtung ziehen, die als immer gleichbleibende Ursachen des Verfalles von Völkern und Staaten auch für unsere heutige Zeit Bedeutung besitzen, und die endlich mithalfen, meiner politischen Denkweise die Grundlagen zu sichern.

*

Unter den Einrichtungen, die am deutlichsten die Zerfressung der österreichischen Monarchie auch dem sonst nicht mit scharfen Augen gesegneten Spießbürger aufzeigen konnten, befand sich an der Spitze diejenige, die am meisten Stärke ihr eigen nennen sollte - das Parlament oder, wie es in Österreich hieß, der Reichsrat.

Der Parlamentarismus

Ersichtlich war das Muster dieser Körperschaft in England, dem Lande der klassischen "Demokratie", gelegen. Von dort übernahm man die ganze beglückende Anordnung und setzte sie so unverändert als möglich nach Wien.

Im Abgeordneten- und Herrenhaus feierte das englische Zweikammersystem seine Wiederauferstehung. Nur die "Häuser" selber waren etwas verschieden. Als Barry einst seinen Parlamentspalast aus den Fluten der Themse herauswachsen ließ, da griff er in die Geschichte des britischen Weltreichs hinein und holte sich aus ihr den Schmuck für die 1200 Nischen, Konsolen und Säulen seines Prachtbaues heraus. In Bildwerk und Malerkunst wurde so das Haus der Lords und des Volkes zum Ruhmestempel der Nation.

Hier kam die erste Schwierigkeit für Wien. Denn als der Däne Hansen die letzten Giebel am Marmorhaus der neuen Volksvertretung vollendet hatte, da blieb ihm auch zur Zierde nichts anderes übrig als Entlehnungen bei der Antike zu versuchen. Römische und griechische Staatsmänner und Philosophen verschönern nun dieses Theatergebäude der "westlichen Demokratie", und in symbolischer Ironie ziehen über den zwei Häusern die Quadrigen nach den vier Himmelsrichtungen auseinander, auf solche Art dem damaligen Treiben im Innern auch nach außen den besten Ausdruck verleihend.

Die "Nationalitäten" hatten es sich als Beleidigung und Provokation verbeten, daß in diesem Werke österreichische Geschichte verherrlicht würde, so wie man im Reiche selbst ja auch erst unter dem Donner der Weltkriegsschlachten wagte, den Wallotschen Bau des Reichstags durch Inschrift dem deutschen Volke zu weihen.

Als ich, noch nicht zwanzig Jahre alt, zum erstem Male in den Prachtbau am Franzensring ging, um als Zuschauer und Hörer einer Sitzung des Abgeordnetenhauses beizuwohnen, ward ich von den widerstrebendsten Gefühlen erfaßt.

Ich hatte schon von jeher das Parlament gehaßt, jedoch durchaus nicht als Institution an sich. Im Gegenteil, als freiheitlich empfindender Mensch konnte ich mir eine andere

Der Parlamentarismus

Möglichkeit der Regierung gar nicht vorstellen, denn der Gedanke irgendeiner Diktatur wäre mir bei meiner Haltung zum Hause Habsburg als Verbrechen wider die Freiheit und gegen jede Vernunft vorgekommen.

Nicht wenig trug dazu bei, daß mir als jungem Menschen infolge meines vielen Zeitungslesens, ohne daß ich dies wohl selber ahnte, eine gewisse Bewunderung für das englische Parlament eingeimpft worden war, die ich nicht so ohne weiteres zu verlieren vermochte. Die Würde, mit der dort auch das Unterhaus seinen Aufgaben oblag (wie dies unsere Presse so schön zu schildern verstand), imponierte mir mächtig. Konnte es denn überhaupt eine erhabenere Form der Selbstregierung eines Volkstums geben?

Gerade deshalb aber war ich ein Feind des österreichischen Parlaments. Ich hielt die Form des ganzen Auftretens für unwürdig des großen Vorbildes. Nun trat aber noch folgendes hinzu:

Das Schicksal des Deutschtums im österreichischen Staate war abhängig von seiner Stellung im Reichsrat. Bis zur Einführung des allgemeinen und geheimen Wahlrechts war noch eine, wenn auch unbedeutende deutsche Majorität im Parlament vorhanden. Schon dieser Zustand war bedenklich, da bei der national unzuverlässigen Haltung der Sozialdemokratie diese in kritischen, das Deutschtum betreffenden Fragen - um sich nicht die Anhänger in den einzelnen Fremdvölkern abspenstig zu machen - immer gegen die deutschen Belange auftrat. Die Sozialdemokratie konnte schon damals nicht als deutsche Partei betrachtet werden. Mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts aber hörte die deutsche Überlegenheit auch rein ziffernmäßig auf. Nun war der weiteren Entdeutschung des Staates kein Hindernis mehr im Wege.

Der nationale Selbsterhaltungstrieb ließ mich schon damals aus diesem Grunde eine Volksvertretung wenig lieben, in der das Deutschtum immer statt vertreten verraten wurde. Allein dies waren Mängel, die, wie so vieles andere eben auch, nicht der Sache an sich, sondern dem österreichischen Staate zuzuschreiben waren. Ich glaubte früher noch,

Der Parlamentarismus

daß mit einer Wiederherstellung der deutschen Mehrheit in den Vertretungskörpern zu einer prinzipiellen Stellungnahme dagegen kein Anlaß mehr vorhanden wäre, solange der alte Staat eben überhaupt noch bestünde.

So also innerlich eingestellt, betrat ich zum ersten Male die ebenso geheiligten wie umstrittenen Räume. Allerdings waren sie mir nur geheiligt durch die erhabene Schönheit des herrlichen Baues. Ein hellenisches Wunderwerk auf deutschem Boden.

In wie kurzer Zeit aber war ich empört, als ich das jämmerliche Schauspiel sah, das sich nun unter meinen Augen abrollte!

Es waren einige Hundert dieser Volksvertreter anwesend, die eben zu einer Frage von wichtiger wirtschaftlicher Bedeutung Stellung zu nehmen hatten.

Mir genügte schon dieser erste Tag, um mich zum Denken auf Wochen hindurch anzuregen.

Der geistige Gehalt des Vorgebrachten lag auf einer wahrhaft niederdrückenden "Höhe", soweit man das Gerede überhaupt verstehen konnte; denn einige der Herren sprachen nicht deutsch, sondern in ihren slawischen Muttersprachen oder besser Dialekten. Was ich bis dahin nur aus dem Lesen der Zeitungen wußte, hatte ich nun Gelegenheit, mit meinen eigenen Ohren zu hören. Eine gestikulierende, in allen Tonarten durcheinander schreiende, wildbewegte Masse, darüber einen harmlosen alten Onkel, der sich im Schweiße seines Daseins bemühte, durch heftiges Schwingen einer Glocke und bald begütigende, bald ermahnende ernste Zurufe die Würde des Hauses wieder in Fluß zu bringen.

Ich mußte lachen.

Einige Wochen später war ich neuerdings in dem Hause. Das Bild war verändert, nicht zum Wiedererkennen. Der Saal ganz leer. Man schlief da unten. Einige Abgeordnete waren auf ihrem Plätzen und gähnten sich gegenseitig an, einer "redete". Ein Vizepräsident des Hauses war anwesend und sah ersichtlich gelangweilt in den Saal.

Der Parlamentarismus

Die ersten Bedenken stiegen mir auf. Nun lief ich, wenn mir die Zeit nur irgendwie die Möglichkeit bot, immer wieder hin und betrachtete mir still und aufmerksam das jeweilige Bild, hörte die Reden an, soweit sie zu verstehen waren, studierte die mehr oder minder intelligenten Gesichter dieser Auserkorenen der Nationen dieses traurigen Staates - und machte mir dann allmählich meine eigenen Gedanken.

Ein Jahr dieser ruhigen Beobachtung genügte, um meine frühere Ansicht über das Wesen dieser Institution aber auch restlos zu ändern oder zu beseitigen. Mein Inneres nahm nicht mehr Stellung gegen die mißgestaltete Form, die dieser Gedanke in Österreich angenommen hatte; nein, nun konnte ich das Parlament als solches nicht mehr anerkennen. Bis dahin sah ich das Unglück des österreichischen Parlaments im Fehlen einer deutschen Majorität, nun aber sah ich das Verhängnis in der ganzen Art und dem Wesen dieser Einrichtung überhaupt.

Eine ganze Reihe von Fragen stieg mir damals auf.

Ich begann mich mit dem demokratischen Prinzip der Mehrheitsbestimmung, als der Grundlage dieser ganzen Einrichtung, vertraut zu machen, schenkte aber auch nicht weniger Aufmerksamkeit den geistigen und moralischen Werten der Herren, die als Auserwählte der Nationen diesem Zwecke dienen sollten.

So lernte ich Institution und Träger derselben zugleich kennen.

Im Verlauf einiger Jahre bildete sich mir dann in Erkenntnis und Einsicht der Typ der würdevollsten Erscheinung der neueren Zeit in plastischer Deutlichkeit aus: der Parlamentarier. Er begann sich mir einzuprägen in einer Form, die niemals mehr einer wesentlichen Änderung unterworfen wurde.

Auch dieses Mal hatte mich der Anschauungsunterricht der praktischen Wirklichkeit davor bewahrt, in einer Theorie zu ersticken, die auf den ersten Blick so vielen verführerisch erscheint, die aber nichtsdestoweniger zu den Verfallserscheinungen der Menschheit zu rechnen ist.

Der Parlamentarismus

Die Demokratie des heutigen Westens ist der Vorläufer des Marxismus, der ohne sie gar nicht denkbar wäre. Sie gibt erst dieser Weltpest den Nährboden, auf dem sich dann die Seuche auszubreiten vermag. In ihrer äußeren Ausdrucksform, dem Parlamentarismus, schuf sie sich noch eine "Spottgeburt aus Dreck und Feuer", bei der mir nur leider das "Feuer" im Augenblick ausgebrannt zu sein scheint.

Ich muß dem Schicksal mehr als dankbar sein, daß es mir auch diese Frage noch in Wien zur Prüfung vorlegte, denn ich fürchte, daß ich mir in Deutschland damals die Antwort zu leicht gemacht haben würde. Hätte ich die Lächerlichkeit dieser Institution, "Parlament" genannt, zuerst in Berlin kennengelernt, so würde ich vielleicht in das Gegenteil verfallen sein und mich, nicht ohne scheinbar guten Grund, auf die Seite derjenigen gestellt haben, die des Volkes und Reiches Heil in der ausschließlichen Förderung der Macht des Kaisergedankens allein erblickten und so der Zeit und den Menschen dennoch fremd und blind zugleich gegenüberstanden.

In Österreich war dies unmöglich.

Hier konnte man nicht so leicht von einem Fehler in den anderen verfallen. Wenn das Parlament nichts taugte, dann taugten die Habsburger noch viel weniger - auf gar keinen Fall mehr. Mit der Ablehnung des "Parlamentarismus" war es hier allein nicht getan; denn dann blieb immer noch die Frage offen: was nun? Die Ablehnung und Beseitigung des Reichsrates würde als einzige Regierungsgewalt ja nur das Haus Habsburg übriggelassen haben, ein besonders für mich ganz unerträglicher Gedanke.

Die Schwierigkeit dieses besonderen Falles führte mich zu einer gründlicheren Betrachtung des Problems an sich, als dies sonst wohl in so jungen Jahren eingetreten wäre.

Was mir zu allererst und am allermeisten zu denken gab, war das ersichtliche Fehlen jeder Verantwortlichkeit einer einzelnen Person.

Das Parlament faßt irgendeinen Beschluß, dessen Folgen noch so verheerend sein mögen - niemand trägt dafür eine Verantwortung, niemand kann je zur Rechenschaft gezogen


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